Vorfahrt ist nicht gleich Vorfahrt

Die Frage der Haftung nach einer Vorfahrtsverletzung kann komplizierter sein, als es viele Verkehrsteilnehmer ahnen, wie ein Gerichtsurteil belegt.

26.10.2015 (verpd) Auch wer sich einer eindeutigen Vorfahrtsverletzung schuldig macht, ist dem Vorfahrtsberechtigten gegenüber nicht in jedem Fall zu uneingeschränktem Schadenersatz verpflichtet. Das geht aus einem Urteil des Landgerichts Hannover hervor (Az.: 18 O 312/12).

Ein Mann war mit seinem Auto mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h auf einer innerstädtischen Straße unterwegs. Im Bereich einer Kreuzung, auf der die Regel „rechts vor links“ gilt, kollidierte er mit einem von links kommenden Fahrzeug, dessen Fahrer ihm die Vorfahrt genommen hatte.

Der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers wollte sich jedoch nur zu zwei Dritteln an dem Schaden des Mannes beteiligen. Sein Argument: Der Pkw-Fahrer, der auf der innerstädtischen Straße unterwegs war, hätte nicht mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit in die Kreuzung einfahren dürfen. Denn er hätte gegebenenfalls seinerseits die Vorfahrt eines von aus seiner Sicht von rechts kommenden Verkehrsteilnehmers zu beachten gehabt.

Keinen Anspruch auf einen vollen Schadenersatz

Gegen diese Ansicht wehrte sich der Unfallgeschädigte vor Gericht. Er war der Meinung, dass der Unfall für ihn unabwendbar war, denn er habe wegen eines auf der rechten Seite befindlichen Maschendrahtzauns freie Sicht auf die von rechts kommende Straße gehabt. Von dort sei kein Fahrzeug gekommen. Für ihn habe daher keine Veranlassung bestanden, die Geschwindigkeit seines Autos zu reduzieren. Im Übrigen habe er die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht überschritten.

Doch das vermochte das Landgericht Hannover nicht zu überzeugen. Es wies seine Klage auf Zahlung des restlichen Drittels als unbegründet zurück.

Zu schnell

Die Richter schlossen sich der Meinung des Kfz-Haftpflichtversicherers des Unfallgegners an, dass der Kläger angesichts der örtlichen Gegebenheiten unangemessen schnell unterwegs gewesen war. Denn Fotos vom Unfallort zeigen, dass die Sicht des Klägers nach rechts zum Zeitpunkt der Kollision unter anderem durch ein parkendes Wohnmobil sowie einen VW-Bus eingeschränkt war. Das vermochte auch der Maschendrahtzaun nicht zu verhindern.

Nach Auffassung der Richter hätte der Kläger daher angesichts der Tatsache, dass er die aus seiner Sicht von rechts kommende Straße nicht weit genug einsehen konnte, nur mit mäßiger Geschwindigkeit in die Kreuzung einfahren dürfen. Er hätte sich darauf einstellen müssen, notfalls rechtzeitig anhalten zu können, um ihm gegenüber Vorfahrtsberechtigte durchfahren zu lassen.

Halbe Vorfahrt

Diese von den Richtern als „halbe Vorfahrt“ bezeichnete Situation gilt ihres Erachtens grundsätzlich auch dem Schutz eines von links kommenden Wartepflichtigen. „Mit ihr wird allgemein der Zweck verfolgt, Zusammenstöße an solchen gefährlichen und unübersichtlichen Straßenstellen zu verhindern.“

Obwohl er unbestritten grundsätzlich Vorfahrt hatte, kann der Kläger daher nicht den vollen Ersatz des ihm entstandenen Schadens erwarten. Das Gericht hielt die von dem gegnerischen Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherer vorgenommene Schadenverteilung vielmehr für angemessen.